Der Plan

Franklin nestelte an dem Kragen seines Mantels und zog ihn so eng zu wie es ihm möglich war. Es war bitter kalt geworden. Der eisige Wind blies ihm geradewegs ins Gesicht. Unerbittlich. Während er eilig die Straßen entlang schritt, richtete er den Blick auf seine Fußspitzen, um die Augen vor dem Wind zu schützen. Nur langsam kam er seinem Ziel näher. Gerade erst hatte er einen der vielen Gedenksteine übertreten, die überall dort in den Boden eingelassen worden waren, wo einmal die Berliner Mauer stand. Nun war es schon 25 Jahre her gewesen, dass die Mauer gefallen war. Erst kürzlich hatte er einen Artikel darüber in seiner geliebten Zeitschrift gelesen.
   Franklin verbarg seine Hände tief in den Taschen seines Mantels. Die Wetterfee aus dem Frühstücksfernsehen hatte ihm vorgestern einen schönen Spätherbst versprochen. Lächerlich! Davon konnte keine Rede sein. Die Frau hatte augenscheinlich keine Ahnung. Das wiederum wunderte ihn überhaupt nicht. Auf Frauen war selten Verlass. Zu oft hatten sie ihn aber auch enttäuscht. Er wusste genau, warum er lieber alleine durchs Leben ging. Keine Frauen bedeutete auch keinen Ärger zu haben! Franklin teilte seinen Haushalt und sein Leben mit George V., einem struppigen alten Kater. Ab und an teilten sie sogar die letzten Scheiben Salami, die nicht selten als trauriger Rest allein und verlassen im Kühlschrank lagen, da er wieder einmal vergessen hatte einzukaufen.
   Franklin zog die Schultern hoch bis an die Ohren. Ausgerechnet heute hatte er keine Wahl zwischen seinem Schreibtisch und dieser Kälte gehabt. Er wurde schon am frühen Morgen zu einem Spezialfall gerufen und brach direkt zu seinem Außeneinsatz auf, ohne sich zuvor ins warme Büro begeben zu können. Gott allein wusste, dass er dort jetzt wesentlich lieber sitzen würde. Schon längst gehörte er nicht mehr zu den Jüngsten seiner Truppe. Genau genommen nicht einmal mehr zu den Kollegen des mittleren  Alters. Er zog die Wärme der Kälte vor. Franklin verzog seinen Mund zu einem unsichtbaren Lächeln. Auch etwas, das er mit seinem Kater teilte. Die Wärme tat seinen Gliedern gut, während die Kälte das Gegenteil bewirkte und mitunter für stechende Schmerzen in seinen Gelenken sorgte. All das ließ er sich natürlich seinen Kollegen gegenüber nicht anmerken. Schließlich war er immer noch ein echter Kerl und nicht so verweichlicht, wie es die meisten jungen Leute heutzutage waren. Wie Helden traten sie in seiner Spezialeinheit auf, um bald möglichst die Karriereleiter hinauf zu steigen. Doch wenn es etwas gab um das ihn die jungen Kommissare wirklich beneideten, dann war es sein ausgesprochen guter Spürsinn! Er ließ sich nicht einfach so an der Nase herum führen. Franklin hatte einen „Riecher“ für die richtige Fährte, das hatte er schon oft unter Beweis stellen können. Kaum einer seiner Kollegen, die alten Hasen und Frauen schloss er da gleich mit ein, konnte ihm das Wasser reichen. Sobald es knifflig wurde, schaltete man ihn ein. So einfach war das. Und so zögerte er auch nicht nur eine Sekunde, als man ihn auch an diesem Morgen anrief und zu diesem Tatort beorderte, obwohl er Geburtstag hatte! Aber auch das wussten wohl die wenigsten – wenn überhaupt jemand. Wozu auch?!  
   Sein Job allein bereitete ihm Freude, ganz gleich was kam. Dabei hatte er schon so einiges mit ansehen müssen in seinen letzten fast 40 Dienstjahren. Rechnerisch dauerte es bis zu seiner Pension nicht mehr lange. Allein der Gedanke daran ließ ihn noch mehr frösteln. Das war nun eine innere Kälte, die sich ausbreitete. Viele seiner Kollegen konnten es kaum erwarten endlich die Dienstmarke an den Nagel zu hängen. Bei ihm war das anders. Sein Job war für ihn zu einer Art Berufung geworden. Während seine Kollegen Reisepläne schmiedeten, plante Franklin eventuell noch ein paar Jährchen in seinem Job anzuhängen. Wenn sie ihn nur ließen. Auf ihn wartete niemand. Außer Georg V. Die Arbeit tat schließlich nicht nur ihm, sondern auch seinem Bankkonto gut, dachte er insgeheim. In den letzten Jahren waren seine Ersparnisse fast gänzlich aufgezehrt worden. Erst im vergangenen Jahr musste das Dach seines alten Häuschens neu eingedeckt werden. Alles war in die Jahre gekommen. Erst die Elektrik, dann die Wasserleitungen und schließlich, ausgerechnet an diesem eiskalten Morgen, hatte dann auch noch sein Wagen den Geist aufgegeben. Vermutlich endgültig. Keine Chance auf Wiederbelebung. Deswegen war er überhaupt erst in dieser misslichen Lage und musste die ganze Strecke in der Eiseskälte bewältigen. Franklin wohnte ein ganzes Stück außerhalb der Stadt. Hier war es bedeutend ruhiger. Friedlicher. Und vor allem: Hier kreuzten bedeutend weniger Menschen seinen Weg als in der City, in der es schrecklich laut war und stank. Dadurch war er eben auch auf sein Auto angewiesen. Der Weg hatte sich an diesem Morgen schon schwierig gestaltet. Zuerst musste er in dieser Kälte zur Bahnstation laufen, um endlich in eine überfüllte Bahn einzusteigen, die ihn in die Stadt brachte. Von dort aus konnte er dann seinen Fußweg weiter fortsetzen. Natürlich hätte er auch mit einem Taxi oder, nach etlichen Umsteigemöglichkeiten, weiter mit der Bahn fahren können. Doch der Fußweg schien ihm einfacher. So war er am Ende vielleicht sogar noch schneller am Tatort gewesen. Während Franklin sich schickte noch einen Schritt schneller zu gehen, zerknüllte er, völlig in Gedanken versunken, das Bahnticket, das in seiner rechten Manteltasche lag und dort gefühlt zu viel Platz einnahm.
   Franklin blickte auf. Er war an der fraglichen Adresse angekommen. An dem Hauseingang mit der Nummer 35 blieb er stehen und sah die Fassade hinauf. Die Gegend war ihm wohl bekannt. Seit dem Mauerfall war viel Geld in diese Gegend geflossen. Man hatte die Häuser baulich aufgewertet, doch von außen wirkten sie noch immer wie ein Relikt aus alten Zeiten. Dieses hier war besonders gut erhalten. Der Hauseingang war sicherheitshalber abgesperrt worden. Gesichert, so sagte man in Fachkreisen. Ein rot-weißes Flatterband sicherte den Aufgang. Zwei Bedienstete standen am Eingang und bewachten den Ort vor den neugierigen Blicken vorübergehender Passanten und schützten ihn vor allem vor dem Zutritt Unberechtigter. Oft genug schnüffelten die Menschen dort herum, wo sie nichts zu suchen hatten. Die Beamten begrüßten Franklin und entfernten die Absperrung am Eingang, damit er eintreten konnte. Anerkennend nickte er den Beamten zur Begrüßung zu. Hier verstand man sich ohne Worte. Einer der Kollegen grinste ihn an. Franklin sah daraufhin noch erster drein. Als wenn ein Tatort ein Ort zum Grinsen wäre! Gutes Personal war eben überall nur schwer zu finden! Franklin schritt in den Hausflur. Es war ziemlich düster im Inneren des Hauses. Nur die Flurfenster ließen etwas Tageslicht hinein. Erst langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Im Erdgeschoss gab es zwei Wohnungen. Eine war links gelegen, die andere rechts. Ein weiterer Weg führte geradeaus zu einer weiteren Tür, die vermutlich zum Innenhof führte. Es roch etwas modrig. Franklin schätzte das Baujahr des Gebäudes auf die vorige Jahrhundertwende. Das waren Häuser mit Charakter, wie er sie gerne nannte. Sie hatten so etwas wie eine Seele und keine Fertigbauwände. Und sie hätten vermutlich viel zu erzählen, wenn sie es denn könnten.
   Franklin strich sich den Kragen des Mantels wieder glatt und öffnete die oberen Knöpfe, während er die Stufen zum 1. Obergeschoss hinauf stieg. Etwas ließ ihn plötzlich aufhorchen. Er konnte es nicht genau benennen, aber etwas hatte ihn irritiert. Am ersten Treppenabsatz hielt er für einen Augenblick inne. Er ging ans Flurfenster und bewegte sich nicht. Durch die Stille des Augenblicks drang eine ihm wohl bekannte Stimme ans Ohr. Unverwechselbar. Durchdringend. Weiblich. Und absolut nervig! Es war genau genommen die Stimme von Susan Meyer! Ausgerechnet sie war also ebenfalls hier her geschickt worden, vermutlich um die Spuren am Tatort zu sichern. Franklin atmete so tief durch, als hätte er eben noch an einer Zigarette gezogen. So wie er Susan bisher in diversen Einsätzen kennengelernt hatte, würde sie bestenfalls nur für Verwirrung am Tatort sorgen. Vielleicht würde sie am Ende noch alles durcheinander bringen. Rechthaberisch wie sie war.
   Franklin verdrehte die Augen. Mit der linken Hand stützte er sich an der Fensterbank ab und strich sich mit der rechten Hand über die Stirn. Er schwitzte leicht. Dann blickte er ins Erdgeschoss hinab. Er konnte sich einfach auf dem Absatz umdrehen und später wieder her kommen. Er musste nur abwarten bis sie gegangen war und konnte sich dann in aller Ruhe um seinen Job kümmern. Die Beamten draußen an der Tür würden sich sicher keinen Kopf machen. Franklin hatte freie Bahn. Aber glich sein Abgang nicht irgendwie einer Flucht? Er? Ausgerechnet vor Susan? Franklin spürte pures Unbehagen in jeder Zelle seines Körpers aufkeimen. Er spürte auch, wie sein Herz wild zu klopfen begann. Sicher nur wegen des eiligen Fußmarsches und des Treppenanstiegs. Kaum merklich schüttelte er den Kopf. Sicherlich hatte sein Herz nichts, aber auch rein gar nichts mit Susan Meyer zu tun! Und vor ihr fliehen würde er schon gar nicht. Franklin drückte den Rücken durch und straffte die Schultern, ehe er sich von der Fensterbank löste und entschlossen den nächsten Treppenaufgang nahm.
   Susans Stimme wurde lauter, je näher er ihr kam. Susan reihte aber auch ein Wort an das andere! Atmete diese Frau überhaupt? Wo holte sie nur all diese Worte her? Einmal hatte sie Franklin kalt erwischt und in ein Gespräch verwickelt, erinnerte er sich. Zugegeben, sie sah ganz passabel aus für ihr Alter, wenn man ihn nach seiner Meinung gefragt hätte. Jetzt allerdings war da nur ihre Stimme und die war ihm lediglich eine Orientierungshilfe. Mehr nicht. Er erkannte welche Richtung er einschlagen musste.
   Vier Wohnungen gingen vom ersten Obergeschoss aus. Eine der Türen war nur einen Spalt breit geöffnet und Susans Stimme war nun mehr als deutlich zu hören. Hier war er richtig. Franklin bemühte sich um Konzentration. Es war wichtig, dass er jetzt einen kühlen Kopf behielt und alles andere ausblendete. Also richtete er seinen Blick auf die Wohnungstür und versuchte einen Schluss auf die Persönlichkeit zuzulassen, die hier lebte. Oder gelebt hatte? Eine schlichte Fußmatte lag zu seinen Füßen. Nichts Außergewöhnliches. Laufschuhe standen daneben. Die Sohlen waren sauber, zumindest nicht mit Dreck verschmiert. Vermutlich lief er oder sie über die Straßen der Gegend. Franklin tippte auf Größe 41 oder 42. Eine Schuhgröße, die für Mann oder Frau in Frage kommen konnte. Einzig die Farbe der Schnürsenkel, ein kräftiges Rosa, konnte zu der Tatsache führen, dass es sich um eine Frau handelte. Doch da konnte man sich nie sicher sein. Der Träger oder die Trägerin hatte sich zwar die Mühe gemacht die Schnürung zu öffnen, doch die Schuhe waren dennoch achtlos abgestreift worden. Wäre die Person ordentlich gewesen, hätte er oder sie die Schuhe nebeneinander gestellt. Es war der Person nicht wichtig gewesen, anderen gegenüber einen ordentlichen Eindruck seiner selbst zu vermitteln. Es war immer noch ein Unterschied gewesen, wie sich jemand vor oder hinter der Wohnungstür verhielt. Gegenstände konnten viel über eine Person verraten.
   Susan lachte auf, was Franklin aus seinen Gedanken riss. Dieses Weibsbild! Er ärgerte sich über sich selbst, weil er sich ablenken ließ. Scheinbar unterhielt sie sich mit jemandem und hatte auch noch Spaß dabei. Hier ging es um Arbeit, nicht um Spaß! Wann begriff sie endlich, dass das, was sie hier zu tun hatten, einen ziemlich ernsten Hintergrund hatte und Konzentration, als auch Zuverlässigkeit und Anständigkeit gefordert war!? Erst neulich waren sie in einer ähnlichen Situation gefangen gewesen. Susan hatte permanent daran gearbeitet ihn aus seiner Reserve zu locken, wie sie es nannte. Das hier war doch keine Spielwiese! Frauen hatten immer nur Flausen im Kopf! Sie schnatterten den ganzen Tag und lenkten andere von der Arbeit ab. So sah es doch aus und nicht anders! Und ausgerechnet dann kommen Politiker noch auf die Idee und führen so etwas wie eine Frauenquote ein! Als hätten sich Frauen nicht ohnehin schon überall breit gemacht.
   Franklin seufzte. Er zog Einmalhandschuhe aus seiner Brusttasche und streifte sie sorgsam über seine noch immer kalten Finger. Vorsichtig streckte er den Arm aus und öffnete die Wohnungstür einen weiteren Spalt breit, so dass er gerade eintreten konnte. Wiederholt blieb er stehen und sah sich zunächst um. Franklin versuchte jeden Gegenstand in sich aufzunehmen, den seine Augen erfassen konnten, um daraus eine Situation ableiten zu können. Die Wohnung war größer als er es zunächst von außen vermutet hatte. Er stand in einem kleinen Flur, von dem zur rechten Hand eine schlauchförmige Küche und von dort aus ein Balkon abging. Er erkannte von weitem den Haarschopf von Susan. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sie es sich dort gemütlich gemacht hatte. Eine fremde Wohnung, die ihr nicht gehörte, ein Tatort dazu, war da scheinbar kein Hindernis. Dass sie am Ende womöglich dabei wichtige Spuren verwischte, interessierte sie wohl kaum. Eine Schande war das. Franklin konzentrierte sich wieder auf die Küche und beschloss den Balkon so lange auszusparen, wie es ihm möglich war.  
   Die Küche war modern und hochwertig eingerichtet. Nichts hier wirkte verspielt, alles klar in seiner Struktur. Franklin beugte sich ein Stück vor um etwas mehr sehen zu können, ohne selbst aufzufallen. Auf der Arbeitsplatte aus grauschwarzem Granit stand ein Frühstücksbrett, gefertigt aus schwarzem Schiefer. Glatt und edel wirkte das Material. Alles, was darauf zubereitet worden war, war verzehrbereit. Auf dem Brettchen lag eine belegte Scheibe Brot, die sogar schon angebissen worden war. Die Person um die es hier ging war augenscheinlich bei ihrem Frühstück unterbrochen worden. Das Brot sah verhältnismäßig frisch aus. Tomaten und Radieschen lagen auf dem Teller appetitlich angerichtet, daneben ein geöffnetes Glas Cornichons. Hier war jemand hungrig gewesen. Der Anblick des Frühstücks erinnerte ihn daran, dass sein eigenes Frühstück schon viel zu lange zurück lag. Franklin spürte ein Ziehen in der Magengegend. Eines stand fest: Was auch immer hier geschehen war, es konnte noch nicht lange her gewesen sein!
   Er drehte sich um und wandte sich dem Wohnzimmer zu, das zu seiner Linken lag. Auch hier erkannte er den guten Geschmack des Wohnungseigentümers. Kein Firlefanz, den Frauen sonst überall so gerne aufstellen. Natürliche Farben, wohin er auch sah. Ein gemütliches Sofa, auf dem mehrere Personen zugleich sitzen und sich unterhalten konnten, ohne sich zu berühren. Bei ihm zu Hause gab es genau zwei Sessel. Auf dem einen saß er, auf dem anderen George V. Ein weiterer Grund länger zu arbeiten war der, sich von diesen zwei Sesseln zu trennen und sich ein schönes neues Sofa zu gönnen, fand Franklin. Jetzt aber suchte er erst einmal nach einem Indiz. Bisher hatte es nichts gegeben, was ihm ungewöhnlich vorgekommen war. Wie schon in der Küche hatte er auch hier den Eindruck, dass die Person, um die es hier ging, gerade erst fort war. Franklin tat einen Schritt ins Wohnzimmer. Dann noch einen. Auf einem Sideboard erkannte er ein Handy. Er ging näher heran. In der Hoffnung, dass alle Spuren bereits gesichert worden waren, nahm er das Handy auf und betätigte es. Das Bild eines Sonnenuntergangs zeigte sich als Bildschirmschoner. Weiter kam er nicht. Er legte das Handy zurück an Ort und Stelle. Wenn hier etwas geschehen war, und schließlich hatte man ihn deswegen gerufen, dann hatte der Täter es ihm nicht leicht machen wollen.
   Franklin verließ das Wohnzimmer und schritt durch den Flur in den hinteren Teil der Wohnung. Drei leicht geöffnete Türen lagen vor ihm. Vielleicht war Susan mit anderen Beamten deswegen auf dem Balkon? Mussten sie frische Luft schnappen, da sie der Anblick, der sie hinter einer dieser Türen erwartete so schockiert hatte? In so einem Moment mit jemandem reden zu können war mehr als Gold wert. Das konnten nur Menschen seines Schlages verstehen. Er selbst hatte diese Gespräche für sich selbst jedoch nur selten in Anspruch genommen. Franklin ging weiter. Er machte sich noch einmal gerade, als er mit seiner behandschuhten Hand die Tür zu seiner Linken aufschob. Langsam und leise. Er konnte so lautlos sein, wie sein struppiger alter Kater es war.
   Vor ihm lag ein geräumiges Schlafzimmer. Kein Blut. Überhaupt keine Person. Kein Chaos. Ja nicht einmal Spuren eines Kampfes. Alles in allem also so gar nichts auffälliges. Wieder nicht. Die Anspannung stieg in ihm auf, wie eine Schlange, die sich windete. Blieben noch zwei Türen übrig. Franklin atmete tief durch. Er öffnete die erste Tür und entdeckte das Bad. Da auch dort nichts war, was auf eine Tat hinwies, wandte er sich nun der letzten Tür zu. Hier musste es also geschehen sein. Das Lachen draußen ebbte ab, was ihn aber nicht störte. Im Gegenteil. Endlich hatte er seine Ruhe. Vermutlich brach Susan auf und er bekam nun seinen Frieden. Franklin spürte, dass sein Herz fast bis zum Hals schlug. Die Anspannung war nun zum Greifen nah. Er schob die letzte Tür auf. Langsam und leise, wie auch die anderen Türen zuvor. Der Blick ins Innere des Raumes verwirrte ihn gänzlich. Nur schwer tat er einen Schritt in den Raum. Dann noch einen. Seine Beine fühlten sich an, als wären sie mit Blei gefüllt worden. Was ging hier vor sich? Schweiß trat ihm auf die Stirn. Franklin führte seine rechte Hand an den Hemdkragen und ließ ihn die obersten Knöpfe seines Hemdes öffnen. Mit einem Mal hatte er das Gefühl nicht atmen zu können. Was in aller Welt …?
   Der Raum, den er betreten hatte, war offen und hell. Ein deckenhohes Bücherregal zierte die linke Seite des Raumes. Davor stand ein alter Ohrensessel, der geradezu einlud dort Platz zu nehmen. Er selbst stand bereits auf einem hellen flauschigen Teppich. Und obwohl er in einer Wohnung stand, in der er selbst so fremd war und in der irgendeine Tat verübt worden sein musste – eine schlimme Tat! – stand er schlicht auf einem Teppich und wollte doch nichts anderes, als einfach nur seine Schuhe auszuziehen und sich hier nieder zu lassen. In diesem Sessel! Mit einem Mal wollte er nur ankommen. Franklins Blick fiel auf den Tisch, der inmitten des Raumes stand. Er ging einen Schritt näher ran. Auf dem Tisch lag ein ausgebreitetes Scrabble-Spiel. Franklin fühlte sich von diesem Spiel plötzlich wie angezogen. Es lag dort, als wenn es nur auf ihn gewartet hatte. Die Spielregel des Spiels war einfach. Ein Spieler hatte die Aufgabe aus zufällig gezogenen Steinen, auf denen jeweils ein Buchstabe aufgedruckt war, Wörter zu bilden. Jeder Buchstabe war mit einer Ziffer versehen. Je mehr Worte gebildet werden können, umso höher ist am Ende die Summe der Ziffern und der damit verbundene Bonus für den Spieler. War das Spiel hier die Nadel im Heuhaufen? Franklin blendete alles um sich herum aus und näherte sich dem Spiel, um es sich genauer ansehen zu können. Er bemerkte nicht, dass auch dieser Raum einen Zugang zum Balkon hatte. Er bemerkte auch nicht, dass sich auf dem Balkon etwas bewegt hatte. Ebenfalls lautlos. Langsam. Er bemerkte auch nicht das kleine rote Päckchen mit der weißen Schleife, das ebenfalls auf dem Tisch gelegen hatte. Er hatte nur noch Augen für das Spiel. Das Indiz.
   Franklin betrachtete die Anordnung der Steine. Er las, was dort jemand für ihn, mit weißen und kalten Plastiksteinen, geschrieben hatte. Eine Botschaft. Die Worte ergaben zunächst keinen Sinn. Er musste sie erst in eine vernünftige Reihenfolge bringen; aber dann war alles klar. Da stand geschrieben: „LIEBER FRANKLIN WIR WUENSCHEN DIR ALLES LIEBE ZUM GEBURTSTAG KOMM FEIERN“. Franklin sah auf. Auf dem Balkon reihten sich nun seine Kollegen und auch die Kolleginnen aneinander. Hinter ihm traten die Beamten in die Wohnung, die das Haus zuvor unten abgeschirmt hatten. Man hatte ihn unter einem Vorwand hergelockt. Aber selten war er glücklicher darüber gewesen, als genau in diesem Moment. Als am Ende Susan mit einem breiten Lächeln auf ihn zuschritt, ihm ein Glas Sekt reichte und ihn auf beide Wangen küsste, stieg ihm die Röte in die Wangen. Susan umarmte ihn jetzt fester.
   „Gefällt dir meine Wohnung?“, fragte sie spitzbübisch. Franklin wurde noch heißer. Bisher war er mit dieser Frau nicht bei einem ‚Du‘ angekommen! Doch damit war er plötzlich sehr einverstanden. Franklin fühlte sich merkwürdig. Er war verlegen. Und das in meinem Alter, dachte er und verzog seinen Mund zu einem Grinsen. Die Kollegen seines Reviers gingen in Gespräche über und so lockerte sich die Stimmung schnell auf. Was für eine Überraschung. Ihm war bisher nicht klar gewesen, dass er in seinem Team so gemocht wurde. Vielleicht war es endlich an der Zeit, einmal einen frischen Wind in sein Leben zu lassen. Und wer weiß, vielleicht konnte er seine Sessel ja auch mit jemand anderem teilen, als ausschließlich mit George V.?!
Wenn er Susan genauer betrachtete, etwas verstohlen von der Seite her, dann musste er sich sogar eingestehen, dass sie ihm im Grunde genommen sogar sehr gefiel. Auch Susan suchte seinen Blick. Franklin lächelte. Er wunderte sich über sich selbst, doch es ging nicht anders. Das Leben war schön! Und der Augenblick hätte nicht passender sein können um genau das zu feiern!
(Der Plan – Schreibwettbewerb „Vital“ 2018/© Nicole Junghans)
%d Bloggern gefällt das: